Im Interview mit Marion Kraske sagt Jakob Finci, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Sarajevo: "In meiner Zeit als Leiter der Behörde für den öffentlichen Dienst, die für die Einstellung neuer Beamter zuständig war, stellte man mir öfter die Frage „Welche Nationalität suchen Sie denn?“ Ich antwortete dann für gewöhnlich: „Wir suchen keine Nationalität, sondern Qualität, den Besten, der Fremdsprachen beherrscht…“, und der Kandidat fragte dann: „Gut, gut, aber welche Nationalität bevorzugen Sie?“ Und dann frage ich nach seiner Nationalität und bekomme die Antwort „Sagen Sie, welche Sie brauchen, diese habe ich dann!“ Denn man kann sich bekennen, wie man will."
Jakob Finci: „Sanader war eine gute Lektion“
Jakob Finci, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Sarajevo, im Interview mit Marion Kraske, Leiterin des hbs-Büro in Sarajevo
Marion Kraske[1]: Wie fühlen Sie sich als jemand, dem in Europa seit Jahren grundlegende europäische Rechte vorenthalten werden?
Jakob Finci[2]: Ich muss zugeben, dass es nicht angenehm ist, in einer Umgebung zu leben, in der sie Bürger von Bosnien und Herzegowina sind – und zwar nicht erst seit gestern, sondern seit einigen Jahrhunderten – aber nicht die gleichen Menschenrechte genießen. Dazu gehört das Recht, für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Dieses Recht wird uns seit Unterzeichnung des Daytoner Friedensvertrags vorenthalten, dazu gibt es eine Urteilsverkündung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg, in der bereits 2009[3] verkündet wurde, dass die Verfassung von Bosnien und Herzegowina geändert werden muss. So, wie sie momentan formuliert ist, ist sie diskriminatorisch, und zwar nicht nur gegenüber jenen, die sich als „Andere“ deklarieren – also nicht einem der drei konstituierenden Völker angehören – sondern auch für jene Mitglieder der konstitutiven Völker, die im „falschen“ Teil des Landes leben: Für die Serben in der Föderation und für Kroaten und Bosniaken in der Republika Srpska. Ich bin der Meinung, dass es jetzt, da wir uns in der Phase der Beantwortung des EU-Fragebogens befinden, an der Zeit ist, zu definieren, wann und wie das Urteil umgesetzt werden soll. Es geht nicht mehr nur um Sejdić-Finci, es gibt noch eine Reihe anderer Urteile, die in die gleiche Richtung weisen. Gleich nach den Wahlen im Oktober sollte die Entscheidung des Gerichtshofes implementiert werden. Die Ungerechtigkeiten müssen beseitigt werden.
MK: Was schlagen Sie vor?
JF: Es geht darum, die Entscheidung des Gerichtshofes so umzusetzen, wie es das Gericht angeordnet hat. Die Spielregeln innerhalb des Hauses müssen geändert werden, und endlich auszusprechen, dass für die Implementierung des Urteils fundamentale Dinge in Bosnien geändert werden müssen. Ich denke, dass es Anfang 2019 dafür höchste Zeit ist, sich der Sache anzunehmen, wenn die neue Regierung gebildet ist und wir ein Parlament haben. Denn es scheint, als hätten unsere Politiker nicht verstanden, dass wir ohne eine Implementierung dieser gerichtlichen Entscheidung, ohne Beseitigung der Fehler, die in Dayton unterschrieben wurden, nicht einmal die Kriterien für den Kandidatenstatus erfüllen, geschweige denn vollwertiges Mitglied der EU werden können.
MK: Ist diese Idee von den konstituierenden Völkern und den “Anderen” überhaupt noch zeitgemäß?
JF: Ich bin Jurist, und als solcher müsste ich besser als alle anderen verstehen, was „konstituierendes Volk“ bedeutet. Wenn Sie jedoch versuchen, in einem beliebigen Rechtslexikon oder Wörterbuch die Bedeutung von „Konstitutivität“ zu finden, dann stoßen Sie auf die Definition des Rechts eines Volkes auf seine Konstituierung.
Und das ist offensichtlich etwas, was in Bosnien und Herzegowina nicht der Fall ist. In Bosnien und Herzegowina wurde der Begriff aus dem Sozialismus übernommen. Das ist ein Begriff, den unser damaliger Ideologe Edvard Kardelj[4] erfunden hat, um die Probleme mit der großen albanischen Minderheit zu lösen; damals gab es in Jugoslawien etwa zwei Millionen Albaner. Dem gegenüber stand Montenegro mit nur 600.000 Einwohnern. Die Montenegriner wurden konstitutives Volk, und zwei Millionen Albaner waren eine Minderheit. Hier lag ganz offensichtlich ein Ungleichgewicht vor, und seit dieser Zeit schleppen wir diesen Ursprung der konstituierenden Völker mit uns herum. Dabei handelt es sich um ein Prinzip, das einer bestimmten ethnischen Gruppe besondere Rechte verleiht. Besonders in Bosnien und Herzegowina ist das allerdings problematisch, denn in Bosnien und Herzegowina gab es nie ein bosnisch-herzegowinisches Volk. Hier hatten wir drei Volksgruppen, die Serben, die Kroaten, und die dritte waren zu Beginn nicht festgelegt, um dann erst laut Verfassung von 1974 als Muslime festgelegt zu werden. 1993, während des Kriegs, wurde bei einer Versammlung der damaligen Vertreter der Muslime beschlossen, die alte Bezeichnung „Bosniaken“ wiedereinzuführen.
MK: Eine Bezugnahme auf eine alte Bezeichnung also...
JF: Ja, auf diese Weise wurden die Muslime hier zu Bosniaken. Es gibt jedoch eine bestimmte Anzahl derer, die sich nicht Bosniake, sondern Bosnier nennen wollen. Denn dieser Begriff ist etwas weiter, der in der gesamten Region üblich wurde. Wenn jemand von hier nach Serbien oder Kroatien, oder in ein drittes Land zieht, fragt ihn niemand „wer bist du?“. Ob du Serbe aus Bosnien, Kroate aus Bosnien oder Bosniake bist – für ihn bist du Bosnier. Das war normal. Ich kann mich noch an meine Jugend erinnern: Wo immer ich außerhalb Jugoslawiens auf Reisen war, war ich Jugoslawe. Nicht nur, weil ich mich selbst so vorgestellt habe, sondern weil ich als solcher betrachtet wurde. War ich in Jugoslawien unterwegs, war ich Bosnier. Und wo immer ich in Bosnien unterwegs war, war ich der aus Sarajevo. Und hier in Sarajevo war ich einfach „Jaki“, denn wir haben uns im Freundeskreis meistens mit Spitznamen gerufen, und oft kannten wir den richtigen Namen gar nicht, geschweige denn die nationale oder religiöse Zugehörigkeit. So war das damals. Dann haben wir ganz plötzlich angefangen, uns ausschließlich in drei Gruppen zu teilen: In Bosniaken, Serben und Kroaten. Da Bosnien und Herzegowina eine Art Zentrum von Jugoslawien war, gab es hier die meisten Mischehen, mehr als 35 Prozent der Ehen war multinational. Aus diesen Ehen gingen Kinder hervor, die sich halb dieser und halb jener Gruppe zugehörig fühlten. Zuerst bezeichnetes sie sich als Jugoslawen, danach als Bosnier, und bei der letzten Volkszählung wurde deutlich, dass die „Übrigen“ in keine Kategorie passen und keinerlei Voraussetzungen für irgendetwas erfüllen. In Bosnien und Herzegowina ist die ganze Machtstruktur so aufgebaut, dass sie in nationale Schlüssel aufgeteilt ist: Es ist genau definiert, wie viele Richter aus der bosniakischen Volksgruppe, wie viele aus der serbischen und wie viele aus der kroatischen kommen müssen. Die Internationalen intervenierten dann, und so vergab man auch ein bis zwei Plätze an die „Übrigen“. Diese Übrigen waren laut Zensus von 1991 noch 350.000 an der Zahl, wohingegen es laut Zensus von 2013 – dessen Ergebnisse noch immer strittig sind –nur noch 40.000 sind.
MK: Aber wird dieses alte Prinzip, was es auch in Jugoslawien schon gab, also das Prinzip der Nationalitäten und des Nationalitätsbewusstseins, nicht von der heutigen politischen Elite eher dazu genutzt, den Kuchen unter sich aufzuteilen? Dabei steht nicht das Prinzip „good governance“ für alle Im Mittelpunkt, sondern die Aufteilung der Ressourcen, um sich selber und seine Cousins und Cousinen zu bereichern. Kurz: Wird dieses System Nationale Identität nicht eigentlich missbraucht, um sehr monetäre Interessen zu verfolgen?
JF: Ja, leider! Es wird wesentlich mehr missbraucht, als es für den richtigen Zweck verwendet wird. Und wenn ich sage „missbraucht“, dann meine ich nicht nur die politischen Eliten, die ihre Wahlergebnisse darauf aufbauen und dann durch die Wahlergebnisse das realisieren, was ihnen etwa laut Verfassung zusteht; ich meine den Missbrauch auf die Art und Weise, dass hier drei Völker leben, die gleich aussehen, die die gleiche Sprache sprechen, diese aber anders nennen, und die sich einzig in ihren Konfessionen unterscheiden – sofern sie überhaupt religiös sind. Es gibt keinen juristischen Beweis, der belegen würde, dass Sie beispielsweise Bosniakin oder Serbin sind. Niemand stellt Ihnen eine Bescheinigung darüber aus, es geht einzig um Ihre persönliche Aussage, Ihr Empfinden. Wir haben viele Politiker, vor allem auf den unteren Regierungsebenen, die sich bei jeder Wahl anders bekennen, weil sie sich bessere Aufstiegschancen davon versprechen.
MK: Wozu führt das im Alltag?
JF: In meiner Zeit als Leiter der Behörde für den öffentlichen Dienst, die für die Einstellung neuer Beamter zuständig war, stellte man mir öfter die Frage „Welche Nationalität suchen Sie denn?“ Ich antwortete dann für gewöhnlich: „Wir suchen keine Nationalität, sondern Qualität, den Besten, der Fremdsprachen beherrscht…“, und der Kandidat fragte dann: „Gut, gut, aber welche Nationalität bevorzugen Sie?“ Und dann frage ich nach seiner Nationalität und bekomme die Antwort „Sagen Sie, welche Sie brauchen, diese habe ich dann!“ Denn man kann sich bekennen, wie man will. Es herrscht die Meinung vor, dass man Arbeit bekommt, wenn man Serbe, Kroate oder Bosniake ist. Das führt natürlich zu einer absurden Situation – die Folge ist, dass viele junge Menschen nicht nur kein Interesse an einem politischen Engagement haben, sondern auch nicht wählen gehen. Denn sie gehen davon aus, dass alles Betrug ist, an dem sie sich nicht beteiligen wollen. Unser größtes Problem ist, dass die Wahlbeteiligung hierzulande nicht mehr als 50-52% beträgt, wobei auch diese Zahl fragwürdig ist, denn in vielen Landesteilen – wie etwa hier in Sarajevo im Bezirk Mitte – die Zahl der Wahlberechtigten wesentlich höher ist als die Zahl der Einwohner. Wenn man davon ausgeht, dass vor dem 18. Lebensjahr kein Wahlrecht besteht, wie kann es dann sein, dass auf der Liste der Wähler im Bezirk Mitte 60.000 Personen registriert sind bei einer Einwohnerzahl von 53.000? Angeblich seien dies Personen, die hier gemeldet sind, aber nicht hier leben, trotzdem aber ein Wahlrecht haben, da sie Bürger sind – so lautet die offizielle Verlautbarung. Zudem finden sich noch Verstorbene auf den Listen, die aber niemand aus den Wählerlisten gestrichen hat. Die Wahlen bei uns sind sehr seltsam, denn es liegen Listen der Wahlberechtigten vor, die länger und umfangreicher sind als die Zahl der gesamten Bevölkerung. Basierend auf solchen Wählerlisten sind die Wahlergebnisse natürlich genauso fragwürdig. Wir versuchen, eine gewisse Kontrolle in das System zu bringen, die Wahlen besser als vorher zu organisieren. Dies sind, wenn ich richtig liege, die achten Wahlen seit Ende dieses unglückseligen Krieges, und nach wie vor ist alles einfach verwirrend. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen: Diejenigen, die nicht zu einem der drei konstituierenden Völker gehören, können sich nicht zur Wahl aufstellen lassen.
MK: Welche Rolle spielen die Internationalen?
JF: Nach jeder Wahl kommentieren internationale Wahlbeobachter, wie fair und ehrlich die Wahlen waren. Denn dies ist anscheinend die Formel: Die Wahlen sind fair und ehrlich, wenn man sich nicht gegenseitig aus den Wahllokalen verjagt hat, wenn niemand vor aller Augen die Wahlurnen gestohlen hat; dass aber ein Großteil der Bevölkerung gar nicht partizipieren kann, scheint niemanden zu interessieren. Und es kommt noch schlimmer: Unsere Politiker haben es in neun Jahren nicht geschafft, das Urteil des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg umzusetzen, das immerhin eine Art Leitidee für Bosnien und Herzegowina sein sollte, die die Richtung vorgibt, die es einzuschlagen gilt.
Zu dem Urteil nahm auch die Venedig Kommission als unabhängiges Beratungsorgan des Gerichtshofes Stellung und bewertete diesen Artikel in unserer Verfassung als Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Uns war das schon 2002 klar, als wir in den Europarat aufgenommen wurden und uns in den Aufnahmebedingungen auferlegt wurde, dies zu ändern – was wir nicht getan haben, bis wir dann das Urteil bekommen haben. Aber das Gerichtsurteil wurde auch nicht umgesetzt. Wenn es im Völkerrecht ein Problem gibt, dann ist es das Problem der Nichtumsetzung internationaler Beschlüsse. Es gibt keine Instanz, keine Polizeigewalt, die kommt und die Regierung zwingt, das umzusetzen, was der Gerichtshof in Straßburg oder ein anderer internationaler Gerichtshof verfügt hat. Das einzige, was unsere Politiker implementiert haben, ist, den „übrigen“ aus dem Volk ihr aktives Bürgerrecht, nämlich das Wahlrecht, vorzuenthalten. Denn sie haben beschlossen, dass Angehörige einer Volksgruppe nicht die Möglichkeit haben sollten, Angehörige aus anderen Volksgruppen zu wählen. Ich gehe dabei als Beispiel von mir selbst aus: Ich bekenne mich als Jude, denn meine Vorfahren waren schon immer Juden, und ich könnte schwerlich irgendetwas anderes sein. Das bedeutet für mich, dass ich bei den nächsten Wahlen – sagen wir, den Präsidentschaftswahlen – gar nicht wählen könnte, denn ich habe die Wahl zwischen einem kroatischen und einem bosniakischen Kandidaten. Beide haben jedoch gesagt, dass sie es nicht erlauben können, dass ein Angehöriger einer Volksgruppe den Vertreter einer anderen Volksgruppe wählen darf. Ich kann aber nur den einen oder den anderen wählen, womit ich natürlich den Zorn des dritten auf mich ziehe.
MK: Wie wird denn die bislang blockierte Implementierung des Richterspruchs von 2009 in der Gemeinde diskutiert? Wünschen Sie sich von der der internationalen Gemeinschaft mehr Unterstützung?
JF: Die Lösung ist sehr einfach. Es müsste nur das implementiert werden, was der Gerichtshof in Straßburg geurteilt hat: Dass alle Bürger Bosnien und Herzegowinas gleichberechtigt sein müssen, sowohl im aktiven als auch im passiven Wahlrecht – d.h., dass sie sowohl Kandidaten sein als auch nach eigenem Gewissen wählen dürfen. Das ist ein weltweites Prinzip – und das sollte nun auch in Bosnien Anwendung finden.
MK: Aber Bosnien wäre nicht Bosnien, wenn es nicht doch ein wenig komplizierter ist. Statt über Sejdic-Finci zu reden, sprachen die Politiker in diesem Jahr lange über Änderungen des Wahlgesetzes und den Ljubic-Fall, allen voran betrieben vom kroatischen Vertreter im Staatspräsidium, Dragan Čović.
JF: Genau das ist ja die Lage, in der wir uns befinden; nämlich, dass jeder das tut, was für ihn am vorteilhaftesten ist. Die Kroaten, die laut Zensus das kleinste konstituierende Volk sind, propagieren ständig, dass ihre Interessen gefährdet sind, weil „die anderen“ Volksgruppen ihnen aufzwingen wollen, von wem sie repräsentiert werden, und sie verlangen einen so genannten legitimen Repräsentationsstatus. Doch das, was Božo Ljubićs Vorschlag beinhaltet, und welchen das Verfassungsgericht leider teilweise bestätigt hat und worüber spekuliert wird, dass es ihren Appetit gänzlich befriedigt hat, ist die Forderung nach kroatischen Vertretern, die nur in Kantonen mit kroatischer Mehrheit gewählt werden, und nicht, dass alle Kroaten und Bosniaken in Bosnien und Herzegowina die gleichen Rechte haben. Also würde mit der Implementierung dieser Entscheidung einem großen Teil der Kroaten in Bosnien und Herzegowina ihr Recht vorenthalten. Von den in der Republika Srpska lebenden Kroaten ganz zu schweigen, die sind vom kroatischen Volk und dem kroatischen Parlament ohnehin abgeschrieben.
MK: Man opfert also die Stimmrechte der Kroaten einem angeblich höher gesetzten Ziel?
JF: Es geht um einen Deal zwischen Dragan Čović und Milorad Dodik: Die Republika Srpska ist serbisch, und wir vergessen mal, dass es dort auch Bosniaken und Kroaten gibt, die gehen uns nichts an. Hier können nur Kantone mit kroatischer Mehrheit, also wo die Kroatische Demokratische Union (HDZ) die Macht hat, wählen. Das heißt, dass Kroaten aus Sarajevo, von denen es immerhin fast 25.000 gibt, keinen Repräsentanten haben und auch keinen haben sollten, da sie hier und nicht in Mostar leben, somit also vielleicht gar keine „richtigen“ Kroaten sind, so die Überlegung. Die katholische Kirche, die in gewisser Weise die Stimme der Kroaten darstellen sollte, ist im Übrigen absolut dagegen und verlangt, dass alle Kroaten die Möglichkeit der Wahl und einer normalen Repräsentanz haben. Der aktuelle Entwurf zum Wahlgesetz, der für die Föderation BiH gilt und den eine Kammer des Föderalen Parlaments verabschiedet hat, spricht genau davon, dass alle konstituierenden Völker und die „übrigen“ gleich vertreten sind, in Abhängigkeit dazu, wie viele wo leben, aber dass alle zehn Kantone gleich vertreten sind, zumindest in der Föderation.
MK: Angesichts dieser Auseinandersetzungen und Manipulationsversuche des Wahlkörpers kommt man am Ende doch immer wieder auf das Dayton-Werk zurück...
JF: Das ist richtig. Die Konstituierung Bosnien und Herzegowinas in einen solchen Staat war 1995 eine Notwendigkeit, um Frieden herzustellen, den Krieg zu beenden. Wir können am Daytoner Friedensvertrag viele Mängel feststellen, aber er hat doch sein wichtigstes, größtes Ziel erreicht – den Krieg beendet. In diesem Beenden des Krieges war der Daytoner Frieden sehr effizient, und tatsächlich wurde nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags keine der Friedenstruppen, die hier im Lande den Frieden sicherten, von irgendeiner Seite angegriffen, noch gab es irgendwelche Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen beziehungsweise den konstituierenden Völkern, die hier leben. Das ist eine große Sache. Aber, all dies wurde auf die Schnelle gemacht. Schnell wurde es gemacht, weil diejenigen, die die Daytoner Verhandlungen geführt haben, begriffen haben, welche Art von Verhandlungspartner die Bosnier und Herzegowiner sind: Wir sind im Stande, stundenlang zu diskutieren, ob wir jetzt lieber Kaffee oder Tee trinken wollen und darüber, ob Kaffee oder Tee überhaupt gesund sind. Und wir schreiben eine ganze Bibliothek an Büchern darüber. Hätten wir, wie es normal gewesen wäre, in dem Friedensvertrag einen Frieden unterzeichnet und festgelegt, dass nach dem Friedensvertrag ein Parlament gebildet wird, das eine Verfassung gibt, würden wir wahrscheinlich noch heute, über 20 Jahre nach Dayton, darüber diskutieren, was für eine Verfassung dieses Land braucht. Deswegen wurde die Verfassung oktroyiert. Allerdings mit einem Artikel über eine relativ einfache Prozedur zur Änderung der Verfassung. Viele unserer Bürger wissen nicht einmal, dass wir einen Zusatzartikel zur Verfassung gemacht haben, der sich auf den Distrikt Brčko bezieht und der von allen politischen Parteien verabschiedet wurde. Natürlich mit der Beteiligung und auf Druck der Internationalen Gemeinschaft. Der Zusatzartikel wurde von allen politischen Parteien in weniger als zwei Monaten angenommen und im Parlament verabschiedet, ohne viel darüber in der Öffentlichkeit diskutiert zu haben. Der Großteil der Bevölkerung weiß auch nicht, dass wir einen Zusatzartikel haben. Der Zusatzartikel wurde im Amtsblatt veröffentlicht, aber wir sind weltweit das einzige Land, das keine Verfassung in seiner Amtssprache hat, die im Amtsblatt offiziell veröffentlicht wurde.
MK: Aber das heißt im Grunde genommen: Es gäbe Möglichkeiten, Dinge zu verändern, aber es fehlt einfach der politische Wille.
JF: Ganz genau. Politischer Wille kann nicht durch Verordnungen und Gesetze erzeugt werden. Politischen Willen erzeugen Menschen, die bei den vergangenen Wahlen die Stimmen von Angehörigen ihrer ethnischen oder politischen Gruppe bekommen haben, um das zu tun, was sie als Gruppe besprochen haben. Dabei ist völlig klar, dass sich die Interessen der politischen Eliten aller drei Völker untereinander sehr ähneln, jedoch weit von den Interessen der Bürger, die sie vertreten, entfernt sind. In allen drei ethnischen Gruppen ist die Unzufriedenheit über die jeweiligen politischen Vertreter und ihrer nicht erbrachten Leistung gleich groß, aber bei jeden neuen Wahlen, die regelmäßig alle vier Jahre stattfinden, kommen wir immer wieder in die Situation, dass jeder „die Seinen“ wählt, ohne nach ihrem Programm zu fragen. In Bosnien und Herzegowina werden Sie in der Wahlkampagne nie einen Kandidaten davon sprechen hören, was er in seiner Amtsperiode zu tun gedenkt, zum Beispiel „Wenn ihr mich wählt, dann werden die Bürger Bosnien und Herzegowinas Recht auf eine Tasse Kaffee jeden Morgen bekommen.“ So etwas gibt es nicht, stattdessen basieren sich die Wahlkampagnen immer darauf, was die anderen falsch gemacht haben. Oder wie wir uns vor den anderen schützen können. Denn, wenn die anderen die Wahl gewinnen, dann laufen wir Gefahr, ausgelöscht zu werden. In der Zwischenzeit wird die wirtschaftliche Lage leider nicht besser, viele qualifizierte Menschen verlassen das Land. Jemand sagte einmal: „Die größten Exportartikel dieses Lands sind Holz und junge, fähige Menschen“
MK: Was folgt daraus für Bosnien?
JF: Es ist eine traurige Entwicklung. Weil einerseits mit dem Eintritt Kroatiens in die EU vor fünf Jahren alle, die einen kroatischen Pass haben – und ich denke, dass 99,9% der Kroaten aus Bosnien und Herzegowina oder jene, die sich als Kroaten bekennen – die Möglichkeit und das Recht haben, in Westeuropa zu arbeiten, ohne eine Arbeitserlaubnis beantragen zu müssen. Vor der slowenischen Botschaft stehen ebenfalls viele in einer langen Schlange und warten auf eine Arbeitserlaubnis, um in Slowenien oder einem anderen EU-Staat arbeiten zu dürfen. Wir wissen um die Situation beispielweise in der Bundesrepublik Deutschland, die dringend Arbeitskräfte benötigt. Es stellt kein großes Problem dar, ein Arbeitsvisum für Deutschland, Österreich oder die Schweiz zu bekommen, und deshalb erleben wir derzeit einen enormen brain drain. Da eine Auswanderung für Kroaten am einfachsten ist - sie können mit ihren Pässen in jedes EU-Land einreisen und erhalten automatisch eine Arbeitsgenehmigung - stehen sie an der Spitze der Auswanderungen. Dies bedeutet aber nicht, dass die anderen – damit meine ich Bosniaken und Serben – nicht auch gerne auswandern möchten. Denn eins steht fest: Hier wird ihnen keine Perspektive geboten. Das Problem liegt ja wie wir sehen nicht allein darin, Arbeit zu finden. Aus diesem Land wandern auch Menschen aus, die sehr gute Jobs haben, selbst Ehepaare, wo beide arbeiten. Sie sagen, sie gehen wegen der Zukunft ihrer Kinder, denn eine gute Zukunft für sie sehen sie angesichts der vielen ungelösten Probleme in Bosnien und Herzegowina nicht.
MK: Umfragen zufolge verlassen viele das Land wegen des Ethno-Nationalismus. Statt politische Probleme zu lösen, statt Jobs zu schaffen, werden Bedrohungsszenarien heraufbeschworen. Wo sehen Sie angesichts dieser Dauerblockade, angesichts der nationalistischen Machtspielchen eine Vision für Bosnien? Was könnte Bosnien weiterentwickeln?
JF: Es ist völlig richtig, dass die Menschen nicht nur wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage auswandern, sondern auch wegen all der anderen Probleme. Außerdem denken sich viele, dass sie besser früher als später gehen sollten. Bedauerlicherweise ist es so, dass vor allem junge Menschen versuchen, rechtzeitig ihren Platz in der internationalen Arbeitswelt zu finden. Eine Lösung für uns wäre, dass, wenn wir nicht nach Europa können, Europa zu uns kommt.
MK: Was kann Europa konkret anbieten?
JF: Wir brauchen de facto jemanden mit der Funktion von Herrn Inzko, dem Hohen Repräsentanten[5]. Ob er diese Funktion gut ausübt oder nicht, ist eine andere Frage. Er müsste jedoch die ihm durch den Daytoner Friedensvertrag verliehenen Befugnisse (Bonn Powers) nutzen. Wenn ich sage „wir brauchen Europa hier“, dann meine ich, dass wir die europäische Art und Weise der Produktion, der Investitionen, der Korruptionskontrolle brauchen, denn, damit wir uns richtig verstehen: Kein Staat auf der Welt ist ohne Korruption. Deshalb brauchen wir Europa hier, und deshalb denke ich, dass alle Reformen, die die EU von Bosnien und Herzegowina verlangt, nicht nützlich für Europa sind, sondern für uns.
MK: Sie sprechen sich demnach für ein stärkeres Vorgehen der Internationalen Gemeinschaft aus, um stärker Druck auszuüben, damit die Weichen gestellt werden für einen Reformprozess, der mit diesen so genannten „politischen Eliten“ so nicht möglich ist?
JF: Ganz genau, denn es scheint, dass unsere Leader die europäischen Regeln nicht annehmen wollen. Sie denken sich: „Wenn wir heute Kandidatenstaat werden, dann sind wir – laut EU-Erweiterungskommissar – in zehn Jahren vielleicht in der EU. Und als Politiker bin ich in zehn Jahren in Rente, Bosnien und Herzegowina tritt in die EU ein, und dann werde ich angeklagt, denn für das, was ich getan habe und immer noch tue, geht man in der EU ins Gefängnis“. Das Beispiel von Krotiens Ex-Premier Ivo Sanader[6] war eine gute Lektion dafür, was passiert, wenn man europäische Kriterien anwendet.
Zur Korruption gehören natürlich immer zwei: Denjenigen, der gibt und jenen der nimmt. Und beide sagen, dass sie weder gegeben, noch genommen haben – deshalb behaupten wir auch, es gäbe keine Korruption bei uns und die bosnische Justiz hat in den vergangenen Jahren nicht ein rechtskräftiges Urteil wegen Korruption verhängt. Dabei fühlen wir sie nicht nur, nein, wir sehen sie regelrecht vor uns. Das fängt schon damit an, dass Sie medizinische Leistungen suchen oder ein Dokument benötigen, eine Genehmigung für irgendeine Tätigkeit in Ihrem Haus oder auf Ihrem Grundstück; bei jedem Schritt ist die Korruption sichtbar, ohne sie kann nichts erledigt werden. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass es im Vergleich zu den Ländern der Region in Bosnien und Herzegowina die meisten Beschwerden gegen Entscheidungen in den öffentlichen Ausschreibungsverfahren gibt, denn es ist allgemein bekannt, dass ein Teil dessen, was man vom Investor bekommen soll, dem Investor zustecken muss, um den Auftrag zu erhalten. Genau das ist unser Problem, denn dagegen kämpft niemand an. Stattdessen haben wir versucht, uns dem Ganzen insofern anzupassen, als wir unseren Nutzen daraus ziehen, gute Geschäfte machen und besser leben können.
MK: Mazedonien und Albanien ziehen gerade de facto an Bosnien vorbei. In beiden Ländern gibt es einen erklärten politischen Willen, um drängende Probleme von Kriminalität und Korruption anzugehen und die Gesellschaften auf diesem Wege nach vorne zu bringen. Wie bewerten Sie das?
JF: Dass Bosnien zurück fällt ist ganz offensichtlich. Dies liegt in dem Verhalten unserer Politiker und dann der Internationalen Gemeinschaft begründet. Vor zehn Jahren war Bosnien und Herzegowina den anderen Ländern der Region, wie Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien in den Beitrittsverhandlungen noch weit voraus. Aber der politische Dissens hat uns zurückgeworfen, zehn Jahre haben wir uns kaum vom Fleck bewegt, und das mit Sicherheit nicht nur wegen des Sejdić-Finci-Falles, sondern wegen unserer internen Beziehungen. Meiner Meinung nach ist das, was die Europäische Union gesagt hat, eine hässliche Geste: Zuerst haben sie Mazedonien 20 Jahre lang gesagt, dass sie die Verhandlungen mit ihnen nicht beginnen könnten, solange sie nicht ihren Namen ändern. Als Mazedonien dann nach sehr schmerzhaftem Verzichten eine Namensänderung akzeptierte, hieß es: „Gut, in einem Jahr eröffnen wir die Beitrittsverhandlungen.“ Diese einjährige Verzögerung bedeutet jedoch ein Jahr verlorener Zeit für Mazedonien und Albanien. Ich weiß, dass in der EU momentan eine Erweiterungsmüdigkeit vorherrscht, und wenn gemäß Maastrichter Vertrag jeder EU-Staat ein Referendum durchführen muss darüber, ob die EU für eine Erweiterung bereit ist, dann wird es sehr schwer werden. Wir haben immer das Beispiel der Türkei vor Augen, bei der die Verhandlungen schon seit 25 Jahren andauern. Die Türkei ist zwar Beitrittskandidat, hat sich aber kaum von der Stelle bewegt.
MK: Sind die Bosnier denn bereit, den Weg in die EU zu gehen?
JF: Man muss natürlich das Paket-Arrangement betrachten, denn es geht nicht nur darum, in die EU zu reisen und dort arbeiten zu können, sondern auch um die Übernahmen von Verpflichtungen nach den Regeln der EU, die sehr strikt sind. Wir müssten noch etwa 700 Gesetze an den Besitzstand der EU anpassen, das ist natürlich erschreckend, denn wenn unser Parlament zehn Gesetze im Jahr verabschiedet, dann glauben wir, dass es ein erfolgreiches Jahr war und sie gute Arbeit geleistet haben. Obwohl es natürlich wesentlich schneller gehen müsste. Aber bei dem glaube ich dennoch, dass es keine andere Option für uns gibt, als alles daran zu setzen, EU-Mitglied zu werden. Es ist doch so: Politische Kriterien werden formuliert, aber dann müssen sie auch implementiert werden. Diejenigen, die die Geschichte der EU verfolgen, werden sich noch entsinnen können, dass zum Beispiel nach dem Fall Francos oder Salazars sowohl Spanien als auch Portugal in die EU aufgenommen wurden, obwohl sie de facto keine der Bedingungen erfüllt haben. Griechenland wurde nach der Militärdiktatur aufgenommen, obwohl es auch nicht eben die Bedingungen erfüllte. Dass die Griechen ihre Ergebnisse und ihren Staatshaushalt ein bisschen 'frisiert' haben, ist eine Tatsache - mit den Folgen dieser Politik muss sich die EU bis heute auseinandersetzen.
Nach all den Erfahrungen ist klar, dass die EU solche Protektionen nicht mehr bieten wird, dass sie niemanden mehr aufnimmt, nur weil er im Krieg war und jetzt im Paket-Arrangement für den gesamten Westbalkan in die EU eintritt. Jetzt wird verlangt, dass alle Bedingungen erfüllt werden, und zwar so, dass wir das Niveau der EU und ihrer Regeln erreichen. Wir haben auch Beispiele für Länder der EU, die dem 'EU-Durchschnitt' immer ein wenig hinterherhinken. Dies sind überwiegend Länder, die erst seit kurzem EU-Mitglied sind, Länder des ehemaligen sozialistischen Lagers, einschließlich Kroatien, die sich mit ihren Resultaten der letzten fünf Jahre in der EU nicht eben rühmen können. Die andere Option wäre, ein 'schwarzes Loch' auf dem Balkan zu bleiben, denn, wenn man sich einmal die Landkarte anschaut, sind Bosnien und Herzegowina und das Kosovo umzingelt von EU-Staaten und - Serbien einmal ausgenommen – von der NATO. Also wird es keine Überraschungen mehr geben, wie damals mit dem Zerfall Jugoslawiens 1992. Europa hat sich gut abgesichert, indem es einen Schutzwall um uns herum gebaut hat.
MK: Welchen Politiker bzw. welche Figur aus der Geschichte sehen Sie als abstrakte Idee für Bosnien? Welchen politischen Geist bräuchte man, um das Land nach vorne zu bringen?
JF: Ich versuche, Realist zu bleiben und weiß, dass wir niemanden von den Toten auferstehen lassen können, der uns helfen könnte. Aber, in Gedanken gäbe es sicher politische Leader aus Jugoslawien, die geeignet wären, etwas zu tun.
MK: Und in der Realität? Wer könnte diese Vision der EU-Mitgliedschaft realisieren und die fortgesetzte Politik der Destruktion und Blockade auflösen?
JF: In Bosnien und Herzegowina haben wir leider niemanden, der ein solches politisches Bewusstsein hat und der vorwärtsgerichtet denkt. Bei uns geht die Reichweite des Denkens nur bis zu den nächsten Wahlen, und das war´s. Niemand denkt daran, wie das Leben hier in 20, 30 Jahren aussehen wird, sondern es geht immer darum, eine Position zu ergattern und dann genug Mittel beiseite zu schaffen, um die eigene Familie für die folgenden Generationen abzusichern. Das ist alles. Und genau das ist auch einer der Gründe, warum so viele Menschen das Land verlassen. Denn wenn die Leader nicht wissen, was zu tun ist, wenn sie keine Idee propagieren, sondern einzig dem Grundsatz folgen „Ich will meinen Anteil, und zwar heute!“, dann ist es schwer, an eine Zukunft für die Menschen zu glauben, die hier leben, arbeiten und pünktlich ihre Steuern zahlen.
[1] Leiterin des Büros der Heinrich Böll Stiftung für Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Albanien
[4] Edvard Kardelj war jugoslawischer Politiker. Im April 1941 war Kardelj Mitbegründer der Antiimperialistischen Front, der Widerstandsbewegung der Slowenen gegen die deutschen, italienischen und ungarischen Besatzer. Kardelj sorgte mit dafür, dass die slowenische Befreiungsfront im Sommer desselben Jahres ein Bündnis mit Titos Partisanenbewegung einging. Als einer der führenden Köpfe war es unter anderem sein Verdienst, dass Jugoslawien 1945 sich von der UdSSR lösen und eine eigene politische Linie entwickeln konnte. Von 1948 bis 1953 war er jugoslawischer Außenminister und bekleidete weitere hohe Positionen in der Politik, z. B. war er von 1963 bis 1967 Parlamentspräsident. Quelle: http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/373113
[6] Ivo Sanader, ehemaliger Regierungschef Kroatiens, der wegen mehreren Korruptionsfällen angeklagt und verurteilt wurde: https://www.zeit.de/2013/12/Ivo-Sanader-Kroatien-Oesterreich